Das Erbe der Gebrüder Grimm

Wolf auf trockenem Baumstamm vor Herbsthecke

© Patrice Schoefolt / Pexels

Wölfe sind keine Menschenfresser. Das will der Wildpark in Bad Mergentheim beweisen und lädt Kinder und Jugendliche zu einer Nacht neben einem ganzen Rudel ein.

Hinweis: Dieser Text entstand 2013. Die Wolfsnächte für Kinder im Wildpark Bad Mergentheim werden inzwischen nicht mehr angeboten. Aber es gibt einen Wolfswagen, in dem man mit Blick auf das Wolfsrudel übernachten kann.

Zwei Augen blitzen zwischen hohen Fichten in der Dunkelheit auf. Wie Diamanten glitzern sie im Licht einiger Taschenlampen. Schatten huschen zwischen den Bäumen umher und verschwinden in der unendlichen Schwärze des Waldes. Es riecht nach Ziegenmist und Baumharz. Zwischen den Zweigen der Bäume regt sich etwas. Es knackt, raschelt, knistert. Pfoten tappen vorüber.
Plötzlich ein lautes Knurren, gefolgt von einem noch lauteren Jaulen wie das Quietschen einer Eisenbahnbremse. Die Tiere halten inne und stimmen nach und nach in das Geheul ein. Sie stacheln sich gegenseitig an, werden immer lauter und übermütiger. Sie knurren und fallen übereinander her. Die Kinder mit den Taschenlampen starren mit großen Augen über den tiefen Graben hinweg in das Gehege. Ist das aufregend: Echte Wölfe!

Sechs Stunden zuvor tummeln sich 32 Kinder im Grundschulalter vor dem Eingang zum Wildpark Bad Mergentheim. Sie schultern ihre Taschen, umarmen und küssen ihre Eltern. Wolfsnacht – darauf freuen sie sich schon seit Wochen.

Viele Jahrhunderte lang galt der Wolf als gefährliche Bestie. Der Mensch rottete ihn weitgehend aus. Mädchen mit roten Kappen soll er fressen und sogar Großmütter. Die Betreiber des Wildparks wollen diesen Horrorgeschichten ein Ende setzen. Kinder haben hier die Möglichkeit, die seltenen und scheuen Tiere aus nächster Nähe zu beobachten, in einem Zeltlager direkt neben dem Gehege.

Jule Uhl stopft eine Strähne zurück in ihren Dutt. Schweißtropfen bilden sich auf der Stirn der 1,80 Meter großen Tierpflegerin. Ihr Pullover, die Arbeitshose und die schweren Stiefel passen so gar nicht zu der glühenden Sonne am Himmel. „Alle Kinder da!“, ruft die 23-Jährige ihrer Kollegin Alina Höfer zu. Auch Alina ist die Hitze anzusehen. Ein paar Strähnen ihrer langen braunen Haare, die sie zu einem Zopf zusammengebunden hat, kleben auf der Stirn. Ihre Jeansshorts sowie das blau-weiß gestreifte Top betonen ihren zierlichen Körper. Nur ihr festes Schuhwerk verrät, dass die 19-Jährige zum Arbeiten hier ist.
In Zweierreihen marschieren die Kinder los, angeführt von Jule und Alina. Vorbei an Steinböcken, die in einem künstlich angelegten Steinbruch über Felsbrocken hopsen, vorbei an Schneeeulen, die müde mit den Augen blinzeln, und vorbei an den Fischottern, deren Tümpel einen übelriechenden Geruch verbreitet, geht es immer schnurstracks Richtung Wölfe.

Dort angekommen sind die Kinder nicht mehr zu halten. Sie kreischen und quieken, reden aufgeregt durcheinander und rennen auf das Wolfsgehege zu.
„Boah, wie cool! Die streiten sich ja richtig.“
„Die haben ja riesige Zähne! Das sieht voll gefährlich aus!“
Einige der Kinder halten sich noch zurück, gucken ängstlich über den Graben vor ihnen. „Ich finde, die sehen echt gruselig aus“, flüstert ein Mädchen mit blonden Locken ihrer Freundin zu. Sie zuckt zusammen, als plötzlich ein Wolf laut knurrt. „Hey! Ich hab' doch vorhin gesagt, wir müssen das Nachtlager herrichten“, ruft Jule. „Ihr könnt dann immer noch zu den Wölfen. Auf geht’s!“

Das Zeltlager befindet sich mitten im Wildpark. Neben der Feuerstelle stecken dicke Holzpfähle im Waldboden. Über ihnen ist eine große Plane zu einem Zeltdach gespannt. Es riecht nach verbranntem Holz und Stroh. Neben dem Zelt prasselt bereits ein Feuer. Die Flammen züngeln an dem verschmorten Holz und verstärken die ohnehin unangenehme Hitze. Würstchen, Stockbrotteig und Gemüse liegen auf einem Tisch bereit. Die Kinder schleppen Kuhfelle aus einer Hütte heran, breiten sie im Zelt auf dem Stroh nebeneinander aus und flitzen dann zurück zur Feuerstelle.

Zwanzig Schritte hinter dem Zelt beobachten vier Wölfe das Treiben. Drei von ihnen haben ein beigefarbenes, fast weißes Fell. Der vierte Wolf ist so schwarz, dass man nicht einmal die Augen erkennen kann. Ein tiefer Graben und ein Eisenzaun trennen die Tiere von den Besuchern. Die Sonne hat Gras und Sträucher im Gehege ausgedörrt. Die Wölfe dösen im Schatten der Fichten, wackeln hier und da mit den Ohren und vertreiben mit ihrer Rute lästige Fliegen, ehe sie vor der Hitze in den Wald hinter ihnen fliehen.

Im Lager stecken die Kinder Würstchen auf ihre Grillstöcke oder packen sie in Hefeteig. Dazu gibt es Tomaten- und Gurkenscheiben. Die Würstchen verströmen einen würzigen Duft. Die Kinder schmatzen und kichern. Jule warnt sie: „Passt auf, dass eure Wurst nicht ins Feuer fällt.“ Keine fünf Minuten später landet die erste Wurst in der Glut. Ein molliger Junge in blau-grüner Cargohose und rotem T-Shirt versucht seine Wurst aus dem Feuer zu fischen: „Ich war schon im Neandertaler-Kurs. Da haben wir das Stockbrot auch noch gegessen, wenn es schon im Dreck gelegen ist.“ Das Mädchen neben ihm sieht ihn angewidert an. Dann fragt sie: „Dürfen wir zu den Wölfen, wenn wir aufgegessen haben?“ Jule und Alina sehen sich an. „Ach, wieso eigentlich nicht“, seufzt Jule.

Sofort legen alle Kinder ihre Würste zur Seite und rennen zum Wolfsgehege. Doch die Wölfe sind nicht zu sehen. Ein paar Jungs versuchen, sie anzulocken. Sie stellen sich auf den Holzzaun, der das Gehege umgibt, recken ihre kleinen Köpfe in den Himmel und stoßen ein ohrenbetäubendes Heulen aus. Täuschend echt. Wohl auch für die Wölfe. Immer mehr von ihnen traben am Rand des Grabens umher. Sie recken ihre haarigen Schnauzen in den Nachthimmel und schnuppern. Einige legen den Kopf schief. „Es klappt!“, jubelt das blondgelockte Mädchen und hat auf einmal überhaupt keine Angst mehr.

Zehn Minuten später sitzen alle Kinder in einem Halbkreis vor Jule, Alina und den Wölfen. Die Kinder dürfen Fragen stellen und Dinge erzählen, die sie schon über Wölfe wissen. Einige kneifen die Augen fest zusammen, um in der Dämmerung die Tiere besser zu erkennen. Aber vergeblich. Ein schmächtiger Bub in Adidas-Hose und quietschgrüner Sweatjacke beginnt. „Ich weiß, dass man den Leitwolf am Pinkeln erkennen kann. Nur der darf nämlich das Bein heben“, erklärt er. „Und nur die Leitwölfin darf Junge haben.“ Die Kinder gucken sich fragend an. „Ist es schon einmal vorgekommen, dass trotzdem ein anderer Wolf geheiratet und Kinder bekommen hat?“, fragt ein blondes Mädchen in der ersten Reihe. „Na ja, Wölfe heiraten ja nicht richtig“, sagt Jule lachend. „Aber wenn ein anderes Weibchen Junge hat, kann es schon passieren, dass die Leitwölfin sie tot beißt.“ Einige Kinder schütteln den Kopf. Wie gemein.
Was man denn machen solle, wenn man einem Wolf in freier Wildbahn begegne, will ein rosa gekleidetes Mädchen wissen. „Das werdet ihr sowieso nicht“, sagt Jule. „Wölfe sind extrem scheu. Und wenn ihr ihnen nichts tut, tun die euch auch nichts. Dass Wölfe gefährlich sind, ist ein Märchen.“ – „Wie Rotkäppchen“, ruft ein Junge von ganz hinten. Alina und Jule stehen auf. „Stellt euch jetzt bitte in Zweierreihen auf“, fordert Jule die Kinder auf. „Wir machen jetzt eine Nachtwanderung.“

Schritt für Schritt geht es über Stock und Stein hinaus aus dem Wildpark und hinein in den finsteren Wald. Äste brechen ab und fallen krachend auf den Waldboden. Unter den Schuhen der Kinder knistert Laub und kleine Zweige knacken. Die Grillen zirpen laut und erfüllen den ganzen Wald mit ihrem Lied. Die Kinder können ihren Vordermann kaum noch erkennen. Sie quasseln und kichern, während sie nervös umherblicken. Aus dem Wildpark ertönt wieder das Heulen des Wolfsrudels. Ein paar Kinder zucken zusammen. „Wieso heulen Wölfe?“, fragt das blonde Mädchen. Alina beugt sich zu ihr hinunter. „Sie markieren damit ihr Revier, zeigen, dass sie zusammengehören, und manchmal auch einfach, weil sie Lust dazu haben.“
Nach einem kurzen Fußmarsch bleibt Jule, die die Truppe anführt, auf einmal stehen. „Wir sind jetzt hier am Mutprobenpfad“, sagt sie. „Der Weg führt etwa 100 Meter schnurstracks durch den Wald. Wir laufen hintereinander. Taschenlampen bleiben aus! Der Weg ist aus Kies. Wenn ihr Laub unter euch hört, seid ihr falsch.“ Die Kinder tuscheln, ein paar Jungs lachen laut, rennen durcheinander und grölen „Zombiiiiiiie!“. Die Mädchen quieken leise und bitten die ungestümen Buben aufzuhören. Doch die beeindruckt das wenig. „Ist doch pippifax! Wer hat bei so was schon Angst?“

„Es war so dunkel. Ich bin sogar gegen eine Bank gelaufen.“ Die Kinder lachen. „Ich stand plötzlich mitten in einem Busch.“ – „Man hat überhaupt nichts gesehen. Es war richtig gruselig“, sagt der Junge, der vor einer Stunde noch ein Zombie war. Müde liegen die Kinder in ihren Schlafsäcken „Wölfe sind so cool, gar nicht gruselig!“, sagt der Junge in der qietschgrünen Sweatjacke, die er über seinem Spongebob-Schlafanzug trägt. Noch immer zirpen die Grillen. Hier und da raschelt das Stroh. Langsam dösen die kleinen Abenteurer dahin. Und die Wölfe heulen immer noch, als auch das letzte Kind die Augen schließt.


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Das Glück hat acht Arme